Zwischen Aufklärung und Absolutismus

Prof. Dr. Dagmar Borchers ist Professorin für Angewandte Philosophie an der Universität Bremen, mit Dramaturgin Frederike Krüger spricht sie über Aufklärung, Milde und Herrschaft.

Titus ist Mozarts letzte Oper, 1791 nur wenige Monate vor seinem Tod und damit fast zeitgleich zu Die Zauberflöte entstanden. In beiden Werken gibt es eine Herrscherfigur, Titus und Sarastro, die sich besonders milde geben und doch unnachgiebig sind. Ihr Regiment gründet sich nicht auf Schrecken, sondern gibt zumindest vor, auf Liebe und Nachgiebigkeit zu setzen. Kann es „milde Macht“ und „gütige Herrschaft“ überhaupt geben? 

Dagmar Borchers: Die Zeit, in der beide Stücke spielen, stellt im Grunde eine umgekehrte Situation zu unserem Heute dar. Auf der einen Seite gibt es den Absolutismus mit seinen starren Machtsegmenten, eine in der Hierarchie brutal aufgestellte Gesellschaft mit dem absoluten Herrscher an der Spitze und auf der anderen Seite formiert sich die politische Philosophie der frühen Neuzeit. Vertreter wie John Locke proklamierten, dass alle Menschen frei sind und gleich an Rechten geboren. Diese Gedanken standen in einem eklatanten Widerspruch zu den realen Machtverhältnissen, aber sie waren in der Welt. Mit diesen Gedanken der Aufklärung konnte sich auch Mozart identifizieren, wie wir wissen. 

Joseph II., der Vorgänger König Leopolds II., zu dessen Krönung Mozart Titus komponierte, hat versucht, möglichst viele dieser aufklärerischen Ideale umzusetzen. Hat er als aufgeklärter Absolutist nicht auch auf seine eigene Abschaffung hingewirkt? 

Nicht unbedingt. Er war natürlich immer noch ein Monarch, aber er hatte diese Ideen der Aufklärung, die Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit implizieren, verinnerlicht und wollte diese auch umsetzen. Das war ja auch die einzige Chance, sich als Herrscher klug, vernünftig und rational zu verhalten, also im Sinne der Aufklärung. Das brutale Schauspiel der Französischen Revolution, während der sich Robespierre grausam verabsolutiert hat – ein nicht gerade erstrebenswertes, um nicht zu sagen abschreckendes Gegenmodell. 

Auf der einen Seite Robespierre und die Aufklärung, auf der anderen Seite der totalitäre Absolutismus. Die Ideen der Aufklärung nun auf das monarchische System zu übertragen, erscheint mir fast logisch. 

Es gab fast keine Alternative. Diese Zeit war eine Art Übergangsphase, eine Demokratie war vollkommen unvorstellbar. Gleichzeitig wurde deutlich, welche Macht das Volk besitzt, sobald es sich mobilisiert. Die Machthaber mussten also agieren, im besten Falle im Sinne der Aufklärung. 

Und dennoch bleibt diese Macht, auch moralisch modifiziert, ein politisches Mittel im Sinne des Absolutismus. 

Ja, es ist immer noch ein Absolutismus.

Mozart entschied sich mit Titus nun für eine Figur, die anders als Robespierre nicht das Mittel der Gewalt wählt, sondern die Milde. Ist diese namensgebende Güte aber nicht weiterhin ein Instrument, um seine Macht zu legitimieren und zu erhalten? 

Hinter Titus‘ Milde mag ein politisches Kalkül stecken, aber nichtsdestotrotz ist es ja Milde. Wir erleben da eine klassische Tugend, die zu Mozarts Zeiten auch von den Herrschern erwartet wurde. Eine Tugend ist immer der Versuch, Affekte in den Griff zu bekommen und auf eine gemäßigte Bahn zu lenken. Das lässt sich bei Titus ja genau sehen, denn er ist in doppelter Hinsicht herausgefordert: Als Privatperson, der von seinem Freund verraten wird und als Regent, der als Person für die staatliche Macht steht. In beiden Fällen ringt er um seine Tugendhaftigkeit und damit um etwas, was die Vernunft gebietet. Und diese Milde ist schon ein Ausdruck der Vernunft.

Diese Milde, die Mozart in Titus verhandelt, kam seitens der Auftraggeber nicht gut an. Erstaunlicherweise aber beim sich gerade bildenden bürgerlichen Publikum. Im Laufe des 19. Jahrhunderts war Titus tatsächlich die beliebteste seiner Opern, noch vor Così fan tutte und Don Giovanni

Ja, diese Milde als Eigenschaft eines Staatsoberhaupts war durchaus umstritten. Meiner Meinung nach liefert Mozart aber ein positives Plädoyer für diese Form der Herrschaft, auch wenn sie auf staatlicher Ebene zum Teil auch Kalkül ist. Mozart war politisch und philosophisch sehr interessiert, er hat auf seine Weise für Freiheit und Gleichberechtigung als Bürger und Künstler gekämpft, ohne dabei Utopist zu sein. So erklärt sich vielleicht auch sein Titus, den er durchaus als streitbaren Charakter anlegte, der eine Hybris in sich trägt, der um diese tugendhafte Milde ja auch kämpfen muss, um sie nach außen zu vertreten. Mozart konnte sehr genau unterscheiden zwischen den politischen Ideen seiner Zeit und dem, was real machbar ist. Dafür steht auch diese Figur des Titus, in dem sich beides vereint: Utopie und Realismus.

Neben Titus gibt es außerdem noch das junge Paar, Annio und Servilia. Beide stehen für eine neue Generation, die sich von Titus und dem Absolutismus abwendet, aber gleichzeitig noch nicht weiß, was dann kommen kann. Weil, wie Sie ja auch schon sagten, von einer Demokratie noch nicht die Rede sein kann … 

Genau das war die Situation 1791, also zur Zeit der Uraufführung. Neulich habe ich von der These gelesen, dass wir jetzt in einem postaufklärerischen Zeitalter leben. Diese Beschreibung scheint mir ziemlich zutreffend. Als Gesellschaft verlieren wir gerade wieder sehr viele Ideale der Aufklärung.

Was meinen Sie damit? 

Wir haben zwar noch das wunderbare politische System eines demokratischen Rechtsstaats, aber wir fallen in unseren Werten und Ideen wieder hinter die Aufklärung zurück. Zu oft sind es Emotionen, die die Diskurse bestimmen und nicht die Argumente. Gerade das Internet verleitet dazu, Gefühle ungefiltert in die Welt zu tragen. Dadurch werden aus Gefühlen aber keine Argumente. Die Ideale der Aufklärung beruhen auf der Vernunft, ein vernünftiger Mensch muss mit seinen Gefühlen umgehen können.

Wenn einem Menschen jedoch aufgrund seiner Lebensweise seine Lebensrealität oder gar das Recht auf Leben abgesprochen wird, dann kann ich eine gewisse Emotionalität durchaus nachvollziehen.

Wir leben in einer pluralistischen Welt, in der unglaublich viele Überzeugungs- und Lebensstile nebeneinander koexistieren müssen. Es ist wichtig zu verstehen, dass andere Lebensarten meine eigenen nicht relativieren und das auch nicht dürfen. Unsere Verfassung sollte dabei wieder mehr in den Vordergrund rücken, denn die Gesetze und Ideen, die da drinstecken, sind ja voller Werte: Die Würde des Menschen ist unantastbar, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit.

Titus begnadigt am Ende seinen Freund Sesto. Auch in unserem Rechtsstaat gibt es das Mittel der Begnadigung. Was halten Sie davon?

Das ist eine sehr spannende Frage. Die Basis einer Demokratie ist ja, dass Dinge rechtsstaatlich entschieden und durchgesetzt werden. Gnade wiederum ist ein christliches oder religiöses Konzept und beruht auf Vergebung. Bei Titus geht es um Großmut. Also die Fähigkeit, sich über das erlebte Unrecht und den eigenen Schmerz zu erheben. Ich glaube, Gnade ist etwas ganz Wichtiges. Auch wenn wir uns gesellschaftlich immer mehr von der Religion entfernen, ist die Idee von Vergebung und Verzeihen ein wichtiger Gedanke unserer Zeit.

Die Prämissen, unter denen aber beispielsweise der Bundespräsident ein Gnadenersuch erlassen oder verwehren darf, werden aber gar nicht öffentlich gemacht. Birgt das nicht auch das Risiko, dass Gnade beliebig gewährt oder verwehrt wird? 

Vielleicht müssen wir den Gedanken der Begnadigung gesellschaftlich und institutionell anders verankern. Aber es gibt ja auch einen großen Unterschied zwischen Begnadigung im politischen und privaten Sinne. Vergebung kann und sollte der Kitt einer Gesellschaft sein.

 

 

Veröffentlicht am 2. Mai 2024