Zwischen Recht und Gerechtigkeit

Wodurch wird unser Gerechtigkeitsempfinden geprägt? Und was hat sich über die Jahrhunderte verändert? Für die Produktion Kohlhaas (No Limits) hat Dramaturgin Sonja Szillinsky mit dem Rechtswissenschaftler Amadou Korbinian Sow gesprochen.

Sonja Szillinsky: Steigen wir gleich mit einer der ganz großen Fragen ein: Was ist der Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit?

Amadou Korbinian Sow: Das ist eine der grundlegenden Fragen, die in irgendeiner Form die westliche Philosophie seit mindestens 2.500 Jahren beschäftigt. Wir werden sie nicht endgültig beantworten können. Wenn wir aber trotzdem versuchen, uns der Frage etwas zu nähern, könnten wir als Ausgangspunkt die Beobachtung wählen, dass Recht Regeln – wenn auch veränderliche – festlegt, die alle befolgen müssen. Verstoße ich gegen sie, hat das Konsequenzen: Ich werde verurteilt, muss Geld bezahlen, verliere womöglich sogar meine Freiheit. Gerechtigkeit dagegen ist eher etwas, wofür wir ein Gespür haben, das sich offenkundig von Mensch zu Mensch stark unterscheiden kann und das wir schwerer in Worte fassen können. Wenn ich mich ungerecht verhalte, bleibt außerdem ganz offen, was für Folgen das hat. In gesellschaftlichen Debatten nehmen rechtliche Argumente zunehmend die Stelle ein, die vorher im weiteren Sinne ethisch-moralische Erwägungen innehatten.

Wodurch wird unser Gerechtigkeitsempfinden geprägt? Welche Rolle spielt dabei geltendes Recht, also die Rechtsordnung eines Staates, die zu einer gewissen Zeit gültig ist, für dieses Verständnis? 

Wir sind stark beeinflusst durch Sprache und Kultur, durch unsere Erfahrungen und die Art und Weise, wie wir aufwachsen und leben. Was wir für gerecht halten, hängt also ganz besonders davon ab, wann wir geboren wurden und in welcher Kultur wir groß geworden sind. Als Teil eines kulturellen Systems prägt Recht unser Verständnis von Gerechtigkeit mit. Ob wir etwa die Todesstrafe für „gerecht“ halten oder nicht, wird in der Regel mitbeeinflusst sein davon, ob sie in der Rechtsordnung, in der wir groß geworden sind, vorgesehen und breit akzeptiert ist oder nicht.

In welcher Weise kann sich Kultur auf die Ausprägung des Rechtsempfindens auswirken?

Kultur ist bedeutend dafür, wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen und beurteilen. Dazu gehört selbstverständlich auch, welche Musik wir hören, welche Bücher wir lesen und welche Filme und Serien wir schauen. Der amerikanische Philosoph Richard Rorty ging sogar so weit zu behaupten, dass Fragen über das richtige Leben, über Gerechtigkeit und Solidarität besser von fiktionalen Medien aufgegriffen werden könnten als von Theorie. Roman, Film und Serie hätten zurecht Predigt und Abhandlung abgelöst. Darin liegt auch eine Gefahr. Die Kulturindustrie verkauft uns Konformität, wir konsumieren Kunst wie Ware und merken manchmal gar nicht, wie sehr uns das ab- und zurichtet. 

Gesellschaften verändern sich stetig und ihre Gesetze werden beständig neu ausgehandelt. Wie beweglich ist eine Rechtsordnung und welche Mechanismen gibt es, sie vor politischer Vereinnahmung, Willkür und Korruption zu schützen? 

Unsere Rechtsordnung hat ein zweischneidiges Verhältnis zu Veränderung. Einerseits ist es ein Merkmal von Recht, dass es stabil ist, für alle gilt und gleichförmig angewendet wird. Andererseits gehört zu modernen sogenannten positiven Rechtsordnungen, dass sie sich fortentwickeln und beispielsweise durch die Politik verändert werden können. Das Recht selbst versucht jedoch, dieser Veränderlichkeit Grenzen zu setzen. Unser Grundgesetz etwa erklärt in Artikel 79 bestimmte Teile unserer Verfassungsordnung für unveränderlich, zum Beispiel die Menschenwürde und die Entscheidung für die Demokratie. Recht ist aber angewiesen auf Institutionen, die es hegen – etwa Gerichte und Verwaltung – und darauf, dass die Rechtsunterworfenen es beachten. Wenn solche Mechanismen – aus welchen Gründen auch immer – zusammenbrechen, können Rechtsordnungen schnell vergehen.

Kleists Michael Kohlhaas wird im ersten Teil der Erzählung Opfer von Willkür. Als er sich Recht verschaffen will, wird seine Klage abgewiesen, da sein Kontrahent mit Personen des Gerichts verwandt ist. Daraufhin versucht Kohlhaas sich sein Recht zu erzwingen und greift mit der Zeit zu immer brutaleren Mitteln. Die Geschichte spielt im 16. Jahrhundert in Brandenburg und Sachsen: Wie unterscheidet sich dieses Rechtssystem von dem der Bundesrepublik im Jahr 2025?

Wir leben schlicht in einer völlig anderen historischen Situation. Das Heilige Römische Reich des 16. Jahrhunderts war ein dezentrales Gefüge mit schwach ausgeprägter staatlicher Macht, in dem religiös gefärbte Konflikte sich Bahn brachen. Die Staatsmacht der Frühen Neuzeit formulierte ihren Ordnungsanspruch zwar immer robuster, dessen Durchsetzung blieb aber heikel. Maximilian I. verkündete 1495 den sogenannten Ewigen Landfrieden. Darin verbot er die mittelalterliche Praxis der „Fehde“, also die private, häufig gewaltsame, Rechtsdurchsetzung. Das war der Versuch, der „Fehdefreudigkeit“ des niederen Adels ein Ende zu setzen und ein Schritt in Richtung staatliches Gewaltmonopol. Die sogenannte Carolina, die Strafgerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 ließ dagegen unter bestimmten Umständen die Fehde wieder zu – sie durfte nur nicht „bößlich“, also unrecht, ausgeübt werden. Heute leben wir in einem recht gut funktionierenden Rechtsstaat. Kohlhaas stünden friedliche Wege offen, sein Recht zu bekommen. Die verwandtschaftlichen Beziehungen des Schlossvogts zum sächsischen Hof beispielsweise, die in Kleists Geschichte die Rechtsdurchsetzung Kohlhaas’ vereiteln, wären heute Gründe für Befangenheitsanträge.

Auch in der Rechtswissenschaft ist die Novelle über Michael Kohlhaas immer wieder Gegenstand von Analysen. Warum interessieren sich Jurist:innen für einen literarischen Text?

Recht und Literatur teilen vieles. Literatur beschäftigt sich in der Regel mit Menschen, die zwangsläufig gesellschaftlichen Bindungen ausgesetzt sind. Das Recht interessiert sich auch für diese Bindungen, es wird von ihnen beeinflusst und wirkt selbst auf sie zurück. Beide sind außerdem auf Sprache verwiesen, können in gewisser Weise erst einmal nur als Texte in die Welt treten und dann durch bestimmte Praktiken im Vollzug – zum Beispiel in der Gerichtsverhandlung oder auf der Theaterbühne – Wirklichkeit gewinnen. Diese Ähnlichkeiten sind sicher ein Grund dafür, dass unter den Schriftstellern immer schon auffällig viele Juristen waren – Ovid, Montaigne, Goethe, Kafka, die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Kleist selbst hat übrigens zumindest kurz Jura in Frankfurt (Oder) studiert. Einen ganz wesentlichen Unterschied sollten wir aber nicht aus dem Auge verlieren: Das Recht muss am Ende eine Entscheidung fällen, die Richterin den Angeklagten verurteilen, die Behörde die Baugenehmigung erteilen und so weiter. Die Literatur kann dagegen die Vielstimmigkeit, Paradoxie und Zufälligkeit der Existenz auffächern und offenlassen, ob es einen Ausweg gibt.

Es gibt zahlreiche Untersuchungen, die eine Kategorisierung der Figur Michael Kohlhaas vornehmen: Er wird unter anderem als Querulant, Terrorist und Rebell bezeichnet. Gibt es ein heutiges Äquivalent zum Verhalten von Michael Kohlhaas? 

Kürzlich hat ein maskierter Täter den Manager der größten privaten Krankenversicherung der USA aus Wut über die ungerechten Praktiken der Versicherungsbranche erschossen. Viele Amerikaner feierten den Täter daraufhin als Helden. Ich musste da an Kohlhaas denken. Aber ich habe ja schon darauf hingewiesen, dass wir im Westen heute in einem Rechtsstaat leben, dessen Funktion auch ist, den – womöglich „rechtschaffenen und zugleich entsetzlichen“ – Zorn der Rechtsunterworfenen in geregelte und wohl im besten Sinne blutleere Verfahren umzuleiten. Eigentlich sieht unser Rechts- und Gesellschaftssystem ein Kohlhaas’sches Verhalten nicht mehr vor. 

 

Amadou Korbinian Sow ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Juristischen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Seine Forschungsschwerpunkte sind das Öffentliche Recht und die Grundlagen des Rechts, insbesondere die Geschichte der Rechtswissenschaft.

 

 

Veröffentlicht am 11. Februar 2025