Humanistisch bleiben, wie das?

Die israelische Autorin Maya Arad Yasur im Gespräch mit Dramaturg Stefan Bläske über den 7. Oktober 2023, Angst und Traumata und ihr Stück, das nun am Theater Bremen aufgeführt wird.

Letzten Oktober hast du das Stück geschrieben: Wie man nach einem Massaker humanistisch bleibt in 17 Schritten. Was war die Situation?

Maya Arad Yasur: Ich habe das Stück zehn Tage nach dem Massaker geschrieben, zehn Tage nach dem 7. Oktober. Die Situation in Israel war immer noch sehr chaotisch und voller Angst. Auch für die Menschen in Tel Aviv, wir fühlten uns extrem unsicher. Es gab Raketen, die aus Gaza auf Tel Aviv und den Süden abgefeuert wurden. Den ganzen Tag, wenn ich mich recht erinnere, aber sei nicht zu streng mit meinen Beschreibungen, denn eigentlich ist die Erinnerung an die Zeit damals sehr, sehr vage. Ich erinnere mich, dass ich das Stück innerhalb weniger Stunden geschrieben und noch am selben Tag an Regisseurin Sapir Heller und einige meiner Kolleg:innen hier in Israel geschickt habe.

Wie waren die Reaktionen?

Ich kann sagen, dass – noch bevor es veröffentlicht wurde – es für Israelis sehr schwer war, es zu lesen. Die meisten gaben zu, dass es für sie im Moment einfach nicht möglich ist, auch über die andere Seite nachzudenken. Und das Interessante daran ist, dass sie dachten, ich würde den Menschen auf der anderen Seite zu viel Raum geben und unseren eigenen Schmerz nicht anerkennen.

Es geht um den Satz: „Vergiss nicht: Auch auf der anderen Seite der Grenze gibt es Mütter“.

Wenn ich nun zurückblicke, denke ich, wie seltsam der menschliche Verstand und die menschliche Seele funktionieren, denn der allergrößte Teil des Textes besteht darin, unseren Schmerz anzuerkennen. Und dann geht es nur in diesem einen Satz um den anderen Teil. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass der Schmerz zu groß ist, um an die andere Seite denken zu können. Aber das war ja der Sinn des Ganzen, denn das ist, worüber ich schreiben wollte. Das ist die menschliche Reaktion. Nicht an die andere Seite denken zu können, sich rächen zu wollen, sicher sein zu wollen, dass so etwas nicht wieder passiert. Unsere Sicherheit um jeden Preis zu bewahren. Diese ganze Ambivalenz, dachte ich, ist etwas, das künstlich erreicht werden muss. Und das habe ich geschrieben.

Und dann?

Dann wurde es in der israelischen Zeitung Haaretz veröffentlicht, eine Zeitung für ein eher gebildetes Publikum. Die Reaktionen waren sehr positiv und viele Menschen waren dankbar, dass sie eine Art Trost, Heilung oder Legitimität für die Dinge fanden, die sie erlebt hatten. Vor allem diesen Zusammenbruch des Humanismus. Sehr schnell, vor allem in den sozialen Netzwerken, bekam ich aber auch unangenehme Reaktionen. Von Leuten, die den Text nicht gelesen und keine Aufführung gesehen haben, allein schon wegen des Titels und der Aufforderung, humanistisch zu bleiben. Das hat die Leute wütend gemacht. Erst ein oder zwei Monate nach der ersten Aufführung in Deutschland wurde es hier im arabisch-jüdischen Jaffa Theater, ebenfalls unter der Regie von Sapir Heller, mit der einheimischen Schauspielerin Michal Weinberg aufgeführt. Die Kritiken waren sehr positiv und die meisten Menschen, die die Aufführung gesehen haben, waren dankbar. Das Stück war die erste theatrale Reaktion in Israel auf den 7. Oktober. 

Im Stück gibt es den Ratschlag: „Sprechen Sie nicht mit europäischen Humanisten.“ Warum?

Ja, ich sage das ein bisschen mit einem Augenzwinkern, aber nicht wirklich. Ich kenne die Haltungen der progressiven linken Europäer:innen seit vielen Jahren, lange vor dem 7. Oktober. Ich habe 2009 an der Universität Amsterdam studiert, als es einen anderen, nicht so ähnlichen, aber auch einen Gaza-Krieg gab. Ich bin mit diesen Meinungen sehr vertraut und teile die meisten von ihnen, die allgemeine Weltanschauung. Oft, wenn ich mit progressiven linken Europäer:innen spreche, ärgere ich mich aber auch über ihre Ignoranz, wenn es um Details und Geographie oder Geschichte der Region geht. Wenn ich mich mit Leuten aus Israel unterhielt, übers Humanistischsein, darüber, auch an die andere Seite zu denken, schien es, als ob das nicht der richtige Zeitpunkt dafür wäre. Warum sollten wir humanistisch sein gegenüber Leuten, die uns ausrotten wollen? Wenn man mit Humanist:innen in Europa spricht, dann haben sie eine sehr bequeme Art, das zu erwarten. Ich denke, wenn man sich auf sicherem Boden befindet, ist es sehr einfach, dafür zu plädieren und diese Art von Analyse vorzunehmen. Aber es ist etwas ganz anderes, ob man sich in einer sicheren Situation befindet oder in einem Zustand des Traumas und der Angst vor einer Wiederholung dessen, was passiert ist. Wenn ich mich in einem Ausnahmezustand befinde und jemand mir vom sicheren Ufer aus sagt, wie ich denken soll, erzeugt das Widerstand, Antagonismus. Es gibt mir das Gefühl, dass ich mich an meine eigene Gruppe halten sollte, weil andere nicht in der Lage sind zu verstehen, was ich erlebe. 

Dein Theaterstück hilft beim gegenseitigen Verstehen.

Stücke sind wie Werkzeuge, die ich als Dramatikerin habe, um mich auszudrücken. Aber in gewisser Weise denke ich, dass es ein Zeitzeugnis ist. Es ist das erste und hoffentlich letzte Mal, dass ich aus der Erfahrung heraus schreibe, während ich sie noch erlebe. Ich glaube, das hat dem Text eine Menge Kraft verliehen. Aber es ist auch etwas, das man im Hinterkopf behalten sollte, wenn man ihn liest oder hört. Der Text ist in dieser Situation entstanden und er sagt: Humanismus ist nichts, was von den Umständen abhängen sollte. Wenn die Wellen hochschlagen, in Situationen von Gefahr und Bedrohung, wird die Stärke deiner Weltanschauung getestet. Wenn wir Humanist:innen sein wollen, dann müssen wir das auch in fragilen Situationen sein. Dieser Kampf ist in meinem Text spürbar. 

 

Wie man nach einem Massaker humanistisch bleibt in 17 Schritten von Maya Arad Yasur ist im Theater Bremen am 7. Oktober um 19:30 Uhr im Kleinen Haus zu sehen. Mehr Informationen und Karten gibt es hier.

 

 

Veröffentlicht am 2. Oktober 2024