Niemand soll sich schämen

Eines der größten Gesundheitsrisiken für Frauen weltweit ist Gewalt. In Deutschland ist jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. Ein Text der Dramaturgin Theresa Schlesinger.

Der 25. November ist seit 1981 der Internationale Gedenktag gegen Gewalt an Frauen. Weltweit wird innegehalten und protestiert. Hintergrund für die Initiierung des Aktionstages ist im Jahr 1960 die Ermordung der Schwestern Mirabal in der Dominikanischen Republik. Als Mitglieder der „Movimiento Revolucionario 14 de Junio“ wurden sie durch Militärangehörige des damaligen Diktators Rafael Trujillo verschleppt und schließlich ermordet. 1981 wurde bei einem Treffen lateinamerikanischer und karibischer Feministinnen der 25. November zum Gedenktag der Opfer von Gewalt an Frauen ausgerufen. 1999 verabschiedeten die Vereinten Nationen eine Resolution, die den 25. November offiziell zum „Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen“ machte.

Gewalt an Frauen ist ein globales Phänomen.

Dazu gehören Stalking und Belästigung ebenso wie häusliche Gewalt und Vergewaltigung. Die Kriminalstatistische Auswertung zur Partnerschaftsgewalt des Bundeskriminalamts zeigt einen deutlichen Anstieg der Zahlen in Deutschland. Knapp 115.000 weibliche Opfer von Partnerschaftsgewalt erfasst die Statistik für 2019 (Pressemitteilung vom 10. November 2019, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend).

Dunkelziffer ungewiss.

„Niemand soll sich schämen, wer missbraucht oder vergewaltigt wurde, niemand soll sich schämen, wer ausgebeutet oder bedrängt wurde, niemand soll sich schämen, wer sich nicht zu wehren wusste, wer aus Angst kraftlos wurde, wer nur wimmern oder weinen oder verstummen konnte, niemand soll sich schämen, wem Gewalt angetan wurde“ schreibt Carolin Emcke in ihrem Buch Ja heißt ja und …. Es ist wichtig, die erschreckenden Zahlen sichtbar zu machen und nicht aufzuhören, sie uns vor Augen zu führen. Genauso wichtig ist es, darüber nachzudenken, woher diese  Zahlen kommen und wie wir damit umgehen. Wir müssen aufhören, Gewalt an Frauen als Tabuthema hinter vorgehaltener Hand zu behandeln. Dringend notwendig ist es, über Strukturen zu sprechen, die Gewalt und Hass gegenüber Frauen produzieren. Wir müssen aufhören, den Frauen die alleinige Verantwortung zu geben und stattdessen fragen: Was muss sich grundsätzlich ändern? Niemand ist schuld daran, in einer dunklen Straße vergewaltigt zu werden oder in eine Partnerschaft Gewalt ausgesetzt zu sein. Und niemand sollte sich schuldig fühlen, einen Übergriff abzuwehren oder anzuzeigen.

Viel zu oft noch bleibt die Erzählung von Gewalt an Frauen in einer Stigmatisierung verhaftet.

Viel zu oft finden die Geschichten der Betroffenen kein oder zu wenig Gehör. Viel zu oft bleiben die Täter unerkannt oder zu milde bestraft. Was können wir also tun? – Wir nehmen Raum ein und werden laut. Wir nutzen Sprache und Musik, um aufmerksam zu machen auf die dringend notwendigen Veränderungen. Wir wollen unseren Teil beitragen zu einer Bewegung, die zwar viel größer ist als wir selbst, die aber jede Stimme gebrauchen kann. Wir möchten Denkanstöße geben und neue Perspektiven eröffnen. Im Theater ist es derzeit ruhig, die Türen sind für das Publikum geschlossen. Schweigen wollen wir trotzdem nicht. Wir sind da. Am 20. November hätte die Produktion WÜST oder Die Marquise von O .... – Faster, Pussycat! Kill! Kill! Premiere gehabt. Ein Stück, in dem ganz direkt die Realität jener erschreckenden Statistiken künstlerisch übersetzt wird. Am Anfang steht eine Vergewaltigung. Der Übergriff markiert den Anlass für eine neue Erzählung. Die Autorin Enis Maci hat zwei Stoffe miteinander verwoben und überschrieben, die von Geschichten weiblicher Rache erzählen.

Sie nimmt die weibliche Perspektive ein, um deutlich zu machen, dass wir Geschichten auch anders erzählen können. Und dass darin die Kraft liegen kann, Strukturen anders zu denken.

Mehrere Künstler*innen des Theater Bremen haben sich zusammengefunden, um am Tag gegen Gewalt an Frauen ein Statement zu setzen. Ulrike Mayer (Gesang), Ulf Schade (Cello) und Killian Farrell (Cembalo) haben die Kantate La Lucrezia von Georg Friedich Händel eingesungen. Lucrezias grausame Geschichte entspringt der römischen Sage: eine Frau, die von einem Freund ihres Mannes vergewaltigt wird und sich aus Scham selbst tötet. Die Schauspieler*innen der Produktion WÜST, Carlotta Freyer, Judith Goldberg, Mirjam Rast und Justus Ritter lesen Texte von Virginie Despentes, Christina Klemm, Carolin Emcke und Margarete Stokowski, zeitgenössische Autorinnen, die sich explizit mit dem Thema Gewalt an Frauen auseinandersetzen und neue Betrachtungsweisen bieten. „Eine Frau, die glaubt, ein unglücklicher Einzelfall zu sein, wird keine Revolte starten, aber sie wird erleichtert sein zu erfahren, wenn es andere tun“ (Margarete Stokowski).

 

Am 25. November sind auf dem Goetheplatz per Audiofile und auf der Homepage Ausschnitte aus folgenden Texten zu hören:

Virginie Despentes: King Kong Theorie, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018, S. 37ff. und S. 52f.

Christina Klemm: Akteneinsicht, Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2020, S. 193-197.

Carolin Emcke: Ja heißt ja und ... S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2019, S. 17f. und S. 88f.

Margarete Stokowski: Untenrum Frei Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 2016, S. 196-199.