Wer all zu viel umarmt, der hält nichts fest
Warum der Rosenkavalier die schönste Oper der Welt ist – eine Hommage von Generalmusikdirektor Yoel Gamzou
Man muss mit Superlativen vorsichtig umgehen, aber tatsächlich geht für mich persönlich mit der Produktion Der Rosenkavalier ein großer Traum in Erfüllung. Man sammelt als Musiker über die Jahre immer wieder Stücke, die man sehr liebt und gerne aufführen möchte. Viele von ihnen durfte ich am Theater Bremen schon dirigieren. Aber Der Rosenkavalier ist für mich eine Kategorie für sich.
Wir wissen alle, dass die Gattung der Oper nicht immer für die differenziertesten Stories sorgt. Der übliche Opern-Klischee-Plot bewegt sich ungefähr in dem Rahmen von „er-liebt-sie-aber-sie-will-ihn-nicht-und-dann-kommt-der-Bösewicht-und-bringt-beide-um“. Oder auch nicht. Auf jeden Fall kann es manchmal ziemlich banal werden. Und die meisten von uns gehen in die Oper, um die unglaubliche Musik zu genießen, um von der Kunst des Gesangs berührt zu werden – und wenn es noch sinnlich inszeniert wird, kann das wirklich ein wunderbares Ereignis werden.
Alle sehnen sich nach etwas.
Der Rosenkavalier ist eines der wenigen Werke in der Mainstream-Opern-Literatur, in der das Libretto vielleicht sogar gleich gut ist wie die Musik. Hugo von Hofmannsthal hat nicht nur eine geniale Geschichte geschrieben, er hat dies in einer Subtilität und mit einem solch großen Farbreichtum getan, der absolut einmalig ist. In diesem Werk sind die Figuren nicht nur sehr facettenreich, sie machen auch eine enorme Entwicklung durch. Alle sehnen sich nach etwas. Sie lieben, sie hassen, sie begehren, sie fürchten. Und eines haben sie alle gemeinsam: einmal, irgendwo mitten drin, finden sie kurz zu sich selber.
Der Rosenkavalier geht los, und gleich wird klar, dass es sich hier nicht um einen gewöhnlichen Abend, bei dem man in der eigenen Komfortzone bleiben kann, gehen wird. Schon während der Ouvertüre der Oper, hier als „Einleitung“ bezeichnet, wird es klar – diese ist kein konventioneller „Katalog“ aller Themen oder Leitmotive, die in der Oper vorkommen werden, sondern eine Explosion von Sinnlichkeit: die erste konkrete musikalische Darstellung eines weiblichen Orgasmus‘ in der Musikgeschichte. Spätestens da erledigen sich alle Klischees von „Gesellschafts-Operette“ oder „Fin-de-Siècle-Kitsch“. Es geht hier um eine Angelegenheit, die damals absolut neu und einmalig war – es ist eine existentielle, absolut radikale Erzählung über Liebe und Erotik aus der Sicht einer Frau – das war 1910 absolut revolutionär.
Selten wurde eine Figur so widersprüchlich, ambivalent, komplex und gleichzeitig so berührend menschlich gezeichnet – und dadurch unglaublich nachvollziehbar.
Für mich dreht sich das Werk letztendlich um die Figur der Feldmarschallin – eine verheiratete Frau des hohen Adels hat eine leidenschaftliche Affäre mit einem sehr jungen Grafen, bis dieser sich irgendwann in eine andere, die junge Sophie von Faninal, verliebt.
Kaum eine andere Figur in der gesamten Opernliteratur geht so einen langen Weg wie die Marschallin: Sie kämpft um Octavian, weiß aber, dass diese Liebe nicht ewig halten wird; sie spürt ihre Triebe, aber kämpft mit ihrer eigenen Fassade und lernt ihre Grenzen kennen; sie verzeiht, aber spürt, dass sie es doch nicht ganz von Herzen tun kann; sie versucht ihre eigene Impulsivität zu unterdrücken, aber letztendlich will sie sich auf keinen Fall eingestehen, dass sie selber auch sehr verletzbar ist. Am Schluss gibt sie Octavian frei.
Selten wurde eine Figur so widersprüchlich, ambivalent, komplex und gleichzeitig so berührend menschlich gezeichnet – und dadurch unglaublich nachvollziehbar. Wir fiebern mit ihr mit, wir fühlen mit ihr, wir leiden mit ihr – wenn sie kämpft, wenn sie verzeiht, wenn sie aufgibt. Fast werden wir gezwungen, uns mit ihr zu identifizieren – wie selten mit einer Opernfigur.
Und wir tun das, weil wir alle Ähnliches wie sie erlebt haben. Wir kennen die Gefühle und Nöte der Marschallin. Trotzdem schaffen es Strauss und Hofmannsthal, diese Figur nicht nur authentisch und nahbar darzustellen, sondern gleichzeitig fern genug, dass wir bewundernd zu ihr aufschauen.
Eine Oper über Menschlichkeit und die Schönheit des Nicht-perfekt-seins.
Der Rosenkavalier erzählt von Liebe, von Vertrauen, von Angst und von Überwindung – vor allem ist es aber eine Oper über Menschlichkeit und die Schönheit des Nicht-perfekt-seins. Dieses eigentliche Kern-Thema des Werkes könnte nicht heutiger sein. Uns werden heutzutage Ideale vorgehalten, die wir nicht erfüllen können oder sollen. Und wir leiden, wir leiden mehr denn je unter unserer eigenen Unfähigkeit, uns selbst so zu lieben wie wir sind und demzufolge uns wahrhaftig auf ein Gegenüber einlassen zu können.
Im Rosenkavalier geht es nicht um perfekte Menschen, die eine perfekte Liebe in einem perfekten Haus mit perfekten Kindern leben. Hier gibt es Menschen voller Schwächen, voller Widersprüche. Und ihre Themen sind unsere Themen. Und ihre Ängste sind unsere Ängste. Und sie sind unglaublich liebenswürdig, weil sie so „un-perfekt“ sind wie sie sind.
Ihre Rolle für ihn ist auch die eines mütterlichen Ideals
Von Anfang an sagt die Marschallin, dass sie eines Tages Octavian aufgeben muss. Dabei hat sie vor allem Angst, dass Octavian sie eines Tages verlassen wird. Sie weiß, dass er weiter ziehen wird – spätestens wenn er sich seiner wahren Erotik bewusst wird, wenn er zu sich gefunden hat: als Mann, als Liebhaber, als sehnender Mensch. Er wird sich eine Frau suchen, der er auf Augenhöhe begegnen kann. Denn die Marschallin ist ihm auf so vielen Ebenen überlegen – und er möchte partout nicht ihre Schwächen sehen. Denn ihre Rolle für ihn ist auch die eines mütterlichen Ideals, und als solches soll sie in ihrer Perfektion und Unnahbarkeit auf keinen Fall vom Podest herunter.
Die Marschallin kämpft um diese Liebe, und ihre Kraft ist gleichzeitig ihre größte Schwäche. Eigentlich ist auch ihre Schwäche ihre größte Kraft. Denn sie leidet genau darunter, dass sie für ihre Stärke geliebt wird. Aber eigentlich kann sie Octavian gar nicht vorwerfen, ihre schwachen Seiten nicht zu lieben – diese hat sie ihm ja nie gezeigt.
Im berühmten Zeit-Monolog, sagt sie:
„Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie. Sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen. In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie, in meinen Schläfen fließt sie. Und zwischen mir und dir da fließt sie wieder, lautlos, wie eine Sanduhr.“
Die Sanduhr, die Zeit – steht nicht nur für Vergänglichkeit und für das Altwerden, sondern auch für den Puls, für den Herzschlag, für die eigene Emotionen. Die Marschallin hat Angst vor der Intensität ihrer eigenen Gefühlen. Und das ist heutzutage wahrscheinlich eines unserer größten Themen, als Menschen – wir flüchten vor Intensität, wir lassen uns ablenken von jeglicher Gefahr, in uns selbst rein schauen zu müssen, und etwas Echtes zu empfinden.
Während ihrer sehr langen Reise lernt die Marschallin unglaublich viel über sich selbst und erlebt sich in Zuständen, die sie nie kannte. Erst am Ende des Stückes will sie gar nicht mehr so viel. Die Marschallin wird uns nicht als Ideal einer Heiligen vorgehalten, sondern als eine zutiefst ambivalente Frau voller Widersprüche gezeigt, die sehr menschlich ist. Sie will die Liebe Octavians zu einer anderen Frau sogar lieben, aber ganz kann sie es nicht. Sie will ihn freigeben, doch begehrt sie ihn zu sehr. Sie will großzügig sein, doch sie ist auch nur ein Mensch, und so blitzen Züge von Groll, Traurigkeit und Sarkasmus durch.
Im Prinzip könnte man die Geschichte des „Rosenkavalier“ in einem Wort zusammenfassen – die Herausforderung, loszulassen.
Mitten im großen Duett am Ende des ersten Aktes sagt die Marschallin zu Octavian „Leicht muß man sein: mit leichtem Herz und leichten Händen, halten und nehmen, halten und lassen“.
Am Ende lernt die Marschallin, nicht Octavian zu lieben, sondern sich selbst. Mit all ihren Schwächen. Denn es sind die Schwächen, die sie liebenswürdig machen.
Der Rosenkavalier ist eigentlich ein Werk über menschliche Unzulänglichkeiten, über den Kampf, nicht sich selbst zu optimieren, sondern sich selbst zu lieben. Eigentlich ist das doch unser Thema heute mehr als je – denn bevor wir versuchen, andere zu lieben, sollten wir vielleicht damit anfangen, uns selbst wahrhaftig zu lieben. Oder in den Worten eines anderen Giganten der Lyrik, Paul McCartney – „The love you take is equal to the love you make“