Winterblues

Antriebslosigkeit, Müdigkeit und wechselhafte Launen kommen vielen Menschen derzeit wahrscheinlich bekannt vor. Dramaturgin Frederike Krüger hat mit der Psychoanalytikerin Christel Böhme-Bloem über saisonale Verstimmungen und die Bedeutung von Musik in der dunklen Jahreszeit gesprochen.

Der Winter ist da, mit ihm triste Wettervorhersagen und dementsprechende trübe Stimmungen, auch Winterblues genannt. Was zeichnet solche „winterlichen Gefühle“ aus und gibt es tatsächlich depressive Erkrankungen oder Verstimmungen, die saisonal bedingt sind?

Christel Böhme-Bloem: Viele Menschen sind in Stimmung und Aktivität abhängig vom Licht. Unser Hirnstoffwechsel ist individuell unterschiedlich darauf angewiesen. Der Winterblues ist zwar keine Krankheit, kann uns aber durchaus mehr nach dem Lebenssinn fragen lassen und uns an unsere Endlichkeit erinnern in dem Maß, wie die Natur sich verabschiedet und stirbt, wie die Blätter fallen. Saisonale Depressionen gibt es – Verstimmungszustände, die bei Patient:innen immer wieder im Spätherbst und Winter auftreten. Die Betroffenen neigen in ihrer Antriebslosigkeit zum Rückzug bis zur Isolation, sind appetitlos, apathisch und brauchen neben einer Psychotherapie oft eine Licht-Behandlung im Rahmen einer psychiatrischen Behandlung.

Winterlich und emotional düster ist auch Franz Schuberts Winterreise. Was haben Psychoanalyse und die Winterreise miteinander zu tun? 

Die Psychoanalyse befasst sich mit allen menschlichen Lebensäußerungen, sie versucht einen Verständniszugang zu allen Bereichen zu finden. So ein Kunstwerk wie die Winterreise ist eine unglaubliche Verdichtung von menschlichem Erleben, fokussiert auf Liebes- und Leidensfähigkeit in ganz vielen Facetten. Wir erleben die Gefühle von Sehnsucht nach Ruhe und Geborgenheit, Wut über Untreue, Enttäuschung, sexuelles Begehren, Fremdheit und Entfremdung, Trauer und tiefe Resignation bis hin zur Todessehnsucht.

Sowohl das Leben von Franz Schubert als auch von Wilhelm Müller waren geprägt von Verlust wiederkehrenden, existenziellen Krisen. Begünstigen solche Gegebenheiten Depressionen?

Ich glaube nicht, dass Wilhelm Müller beim Verfassen der 24 Gedichte depressiv war, er explodierte vor Schaffenskraft. Auch Schubert war beim Vertonen ganz in seinem Element. Er soll einer Legende nach einen Teil der Gedichte in einem Büro gefunden, heimlich mitgenommen und sie wie im Rausch in einer Nacht vertont haben. Aber sie kannten beide Verluste und Krisen aus tiefster Erfahrung und waren sich darin so ähnlich, dass sie, ohne sich zu kennen, in unmittelbare Resonanz kamen.

Ist das Biografische wesentlich beim Hören von Musik? 

Bei der Winterreise gibt es vielleicht zu viele Informationen zu den beiden Schöpferbiografien – da hat man‘s schwer, sich davon wieder zu lösen. Ich glaube, dass man die persönliche Möglichkeit des Miterlebens auch finden kann, wenn man nicht an die Biografien denkt. Ich höre Musik als fließende Kunstform und lasse mich emotional mitnehmen in das jeweilige Erleben der Klänge und in die über die Worte vermittelten Inhalte. Gelingt es, dass ich etwas Eigenes, mich direkt Ansprechendes emotional entdecke, ist es gut, und dann versteht die Musik mich und ich die Musik. 

Als Schubert die Winterreise selbst am Klavier im Kreis seiner Bekannten sang, stieß er vor allem auf Unverständnis. Trotzdem setzten sich die Lieder durch und erfreuen sich einer anhaltenden Faszination. Was fesselt die Menschen an diesen Liedern? 

Die emotionale Echtheit und damit die Möglichkeit, Eigenes im Zuhörenden zu wecken, bietet die Chance, eine Art choreografisches Hören zu ermöglichen. Damit meine ich, innerlich alle Sinne zu öffnen und mit dem Horchen auch den Raumsinn, die Eigenwahrnehmung des Leibes mit der Möglichkeit zum inneren Tanz zu spüren und so an dem kinästhetischen inneren Schatz anzuknüpfen, den wir seit unserer frühesten Zeit haben und der so leicht im Alltagsgetriebe verschüttet wird. Der Liederzyklus hat immer wieder Choreograf:innen angeregt, ihn auch zu vertanzen und andere Komponist:innen beflügelt, eine eigene Interpretation zu schaffen, wie es ja auch in Bremen geschieht.

Das Bild des leidenden Menschen oder Künstlerpersönlichkeit war im 19. Jahrhundert en vogue. In welchem Verhältnis war das Leiden zwischen Kunstschaffendem und Privatperson, relativierten sich die psychischen Zustände vielleicht auch durch die Komposition? Und wird heute anders gelitten als im 19. Jahrhundert?

Die Fähigkeit, in die Tiefe menschlichen Leids hinabzusteigen, war in der Romantik sicherlich wichtig – seit dem Sturm und Drang an der Schwelle des Jahrhunderts fand Leiden große Resonanz, denken wir nur an Goethes Leiden des jungen Werther. Aber weder Schubert noch sein großes Vorbild Beethoven waren Kostverächter. Im Privaten und im Freundeskreis wurde auch gefeiert und genussvoll gelebt. Auch wenn das Schicksal hart war, es keine wirkliche Behandlung für die Syphilis gab, von der Schubert wohl betroffen war, müssen wir uns das Leben der Künstler nicht trist vorstellen, sondern durchaus lebensvoll in Freud und Leid.

Sowohl Franz Schubert als auch Wilhelm Müller sind sehr jung gestorben. Auch heute gibt es in der Popkultur den Mythos vom Club 27. Junge Musikerinnen und Musiker wie Kurt Cobain oder Amy Winehouse, die im Alter von 27 Jahren gestorben sind. Gab es dieses Phänomen auch im 19. Jahrhundert und hat vielleicht zum Erfolg der Winterreise beigetragen? Bedingt gute Kunst das Leiden?

Eine interessante Frage ist ja, was mit Schubertiaden geschehen wäre, wenn Schubert und seine Freund:innen schon so gut vernetzt gewesen wären wie heutige Pop-Künstler:innen, wenn sich der Erfolg an Follower:innen gemessen hätte und die Musik in Lichtgeschwindigkeit um den Globus hätte reisen können. Dazu noch die leichte und fatale Verfügbarkeit von Drogen wie Heroin, dem Kreativitäts- und Menschenkiller par excellence. Ich glaube, dass die Langsamkeit auch ein Segen ist für die Nachhaltigkeit – nach 200 Jahren hat uns die Winterreise noch viel zu sagen. Und das ist der Fall, weil sie uns an die menschliche Grundverfassung führt und nicht, weil sie von leidenden Künstlerinnen und Künstlern stammt.

Was hilft denn, um emotional gut gewappnet durch die Winterzeit zu kommen? Die Winterreise hören?

Ja, wir zünden Lichter an, feiern Santa Lucia oder andere Lichterfeste wie Weihnachten und setzen uns zusammen bei gutem Essen. Das ist die eine Hilfe in der dunklen Zeit. Die andere ist wirklich, dass wir uns – vielleicht nicht nur saisonal – durch Begegnung mit Kunstwerken wie der Winterreise mit existenziellen Inhalten befassen.

 

Dr. med. Christel Böhme-Bloem ist Psychoanalytikerin / Lehranalytikerin der DPV/IPV und der DGPT, Nervenärztin und Ärztin für Psychotherapeutische Medizin. Seit zehn Jahren ist sie Mitglied der Arbeitsgruppe Psychoanalyse und Theater an den drei Sparten der Kieler Bühnen. Ihre Veröffentlichungen betreffen die Psychoanalytische Konzeptbildung, die Psychosomatik und den Themenkreis Psychoanalyse und Musik. Im Rahmen von Psychoanalytischen Konzerten beschäftigte sie sich mit der Winterreise.

 

 

Veröffentlicht am 4. Dezember 2024