Das November-Editorial: Post aus Berlin, Content Marketing und Ambiguitätsintoleranz
Michael Börgerding zur ersten Ausgabe des Online-Magazins
Ende der Theaterferien bekam ich per SMS Post aus Berlin, Ulrich Khuon, Intendant des Deutschen Theaters und Präsident des Deutschen Bühnenvereins, schrieb mir: „Lieber Michael. Komme gerade aus dem Urlaub und vermisse euer Monatsheft! Gibt es nur noch den Lepo? Das wäre schade. Deine inspirierenden Vorworte würden mir fehlen.“ Ich habe ihm geantwortet: „Lieber Uli, wir haben das Heft tatsächlich nach sieben Jahren eingestellt, zu viel Arbeit, zu wenig Leser. Zu sehr Fanzine. Jetzt wird alles anders und die Zauberworte heißen Online Magazine und Content Marketing.“ Seine trockene Antwort: „Lieber Michael, diese Marketing Strategien musst du mir irgendwann erklären.“
„Seine Ziele erreicht das Content-Marketing, indem es den Inhaltsproduzenten als Experten, Berater und Entertainer profiliert ...“
Was ich hiermit versuche und Wikipedia zur Hilfe nehme: „Content-Marketing ist eine Marketing-Technik, die mit informierenden, beratenden und unterhaltenden Inhalten die Zielgruppe ansprechen soll, um sie als Kunden zu gewinnen oder zu halten. Im Gegensatz zu werbenden Techniken wie Anzeigen, Bannern oder Werbespots stellen die Inhalte des Content-Marketings nicht die positive Darstellung des eigenen Unternehmens mit seinen Produkten in den Mittelpunkt, sondern bieten nützliche Informationen, weiterbringendes Wissen oder Unterhaltung. Seine Ziele erreicht das Content-Marketing, indem es den Inhaltsproduzenten als Experten, Berater und Entertainer profiliert, der Kompetenzen, Know-how und Wertversprechen durch den Inhalt demonstriert, statt sie nur zu behaupten.“
Das liest sich jetzt nicht wie ein inspirierendes Vorwort, beschreibt aber im Grunde sehr genau, was wir hier mit diesem Online-Magazin versuchen wollen: Ihnen über uns und unsere Arbeit Informatives, Nützliches und Unterhaltsames zu erzählen. Ob es uns als Inhalt produzierende Schreiber und Schreiberinnen dabei gelingen wird, uns als Expert*innen, Berater*innen oder gar als Entertainer*innen zu profilieren (oder ob wir eher scheitern als Besserwisser*innen – als Wort ein schöner Kommentar zur Sternchendebatte), werden wir sehen. Beziehungsweise entscheiden Sie als Leser oder Leserin. Oder soll ich sagen „User*in“ und an das berühmte Lamento des eleganten mündigen Bürgers in Rainald Goetz’ „Krieg“ erinnern: „Das ganze Theater – eine einzige Userfeindlichkeit!“?
Toleranz gegenüber Ambiguität ist vielleicht der Gradmesser für die Aufgeklärtheit einer Gesellschaft.
Die Aufgabe des Monatsheftes ist hoffentlich kein weiterer Beleg für „Die Vereindeutigung der Welt“ – eine These von Thomas Bauer, der über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt ein sehr kluges und ein sehr beunruhigendes Buch geschrieben hat. Ob es die Vogel-, die Insekten-, die Pflanzen, die Sprachenvielfalt – ein Drittel der 6500 Sprachen werden in den nächsten Jahren aussterben – ist, die Welt wird immer monotoner, gleicher, entschiedener, geschlossener, ähnlicher. Ambiguität bedeutet Mehrdeutigkeit, Unentscheidbarkeit, Vagheit. Etwas, das nicht gleich zu lesen ist, gleich zu deuten ist. Ambiguität ist offenbar auch etwas, das Angst machen kann. Zumindest beunruhigt. In der Kunst ist Ambiguität vielleicht das, was bei Adorno das Unverfügbare war – etwas, auf das wir keinen Zugang haben, das nicht zu verwerten ist, das keinem Ziel oder keiner Absicht unterliegt. Mein neues Lieblingsfremdwort entnehme ich diesem schmalen und klugen Reclam-Bändchen: Ambiguitätsintoleranz. Toleranz gegenüber Ambiguität ist vielleicht der Gradmesser für die Aufgeklärtheit einer Gesellschaft. Und Ambiguitätsintoleranz vielleicht der Begriff des Augenblicks – angesichts des europäischen Rechtspopulismus und der Sehnsucht oder dem Verlangen nach einfachen Antworten all überall. Und so ist der Anspruch dieser Seiten nicht nur Content, also Inhalt, sondern auch Vieldeutigkeit, Widerspruch und Humor – benutzerfreundlich und gut lesbar. Und so vielleicht eine Weiterentwicklung des alten Monatsheftes und kein bloßer Ersatz.
Etwas Neues beginnt jetzt also mit diesem Magazin, während das eigentlich Neue – die Spielzeit 2019/2020 – schon längst begonnen hat.
Geplant hatten wir es anders, das Online-Magazin hätte die neue Spielzeit eröffnen sollen, und ich hatte einen Schreibauftrag über den Sommer. Auf meine Frage, was ich denn in einem Online-Editorial schreiben solle, bekam ich die Antwort, ich solle doch schreiben, worauf ich mich persönlich freuen würde.
Also dann (einmal zurück an den letzten Tag der Theaterferien):
Ich freue mich darauf, ...
– dass wir Mütter weiterspielen und bereits jetzt schon alle Vorstellungen bis in den November ausverkauft sind! Und dass wir es weiter spielen werden in 2020!
– dass Alize Zandwijk mit ihrem Lieblingsautor Wajdi Mouawad die Spielzeit im Schauspiel eröffnet!
– dass Yoel Gamzou gemeinsam mit Frank Hilbrich, der nach langer Zeit wieder in Bremen arbeitet, einen neuen Blick auf den Rosenkavalier werfen wird!
– dass Tatjana Gürbaca anders als in Bayreuth in Bremen genügend Probenzeiten bekommt und dass Dušan David Parizek nach fünf Jahren wieder nach Bremen kommt!
– dass die neu aufgestellte Tanzsparte uns weiter so positiv überraschen wird!
– dass Theo Fransz wieder dabei ist!
– dass Armin Petras sich für die nächsten drei Jahre verpflichtet hat, jeweils ein Schauspiel und eine Oper zu inszenieren und jeweils ein Stück zu schreiben – am Montag lag ein neuer Text von ihm für die Eröffnung 20/21 bei mir im elektronischen Briefkasten!
– dass Samir Akika mit Bravehearts und mit den Jungen Hunden gleich zwei Lieblingsprojekte machen kann und wird!
– dass wir endlich Dreigroschenoper machen und dass Klaus Schumacher sie zusammen mit Tobias Vethake machen wird!
– dass Felix Rothenhäusler an seiner besonderen Weise, Theater zu sehen, zu verstehen und zu machen, hier in Bremen weiter schraubt – und in München an den Kammerspielen und Zürich am Neumarkt nur gastiert.
– dass die Jungen Akteur*innen einmal mit Alize Zandwijk und einmal mit Samir Akika arbeiten werden!
– dass Nadine Geyersbach, Annemaaike Bakker und Simon Zigah in Bremen geblieben sind – trotz Angeboten aus Zürich, Hannover oder der Burg (auch das muss mal gesagt werden)!
– dass Paul-Georg Dittrich und Marco Štorman und beide mit Claudio Otelli wieder im Musiktheater dabei sind!
– dass wir einen Madonna-Liederabend machen und die Jungen Akteur*innen einen Abend mit dem Titel Like A Virgin machen – der nichts mit Madonna zu tun haben soll!
– dass wir weiter mit La Fleur aus Paris zusammenarbeiten und in der nächsten Spielzeit wieder mit Gintersdorfer/Klaßen!
– dass es am Ende der Spielzeit ein Mani:fest der Jugend auf dem Goetheplatz geben wird!
– dass mit Alize Zandwijk, Tatjana Gürbaca, Pinar Karabulut, Salome Schneebeli, Selen Kara, Nina Mattenklotz, Elsa-Sophie Jach, Anne Sophie Domenz, Monika Gintersdorfer, Hannah Biedermann, Núria Guiu Sagarra, Nathalie Forstman und Christiane Renziehausen 13 Regisseurinnen an diesem Haus arbeiten (und nur 12 Regisseure)!