Schauspiel

Kleines Haus

Nathan der Weise

Ein Weichmacher für den Glaubenspanzer
von Gintersdorfer/Klaßen nach Lessing
Regie: Monika Gintersdorfer

„Seit den Attentaten in Frankreich erwähne ich, wenn ich mich irgendwo vorstelle, dass ich Jüdin bin. Ich tue es aus Solidarität, weil Juden in Europa wieder angegriffen werden.“ (Gila Lustiger) — Die Diskussionen verstummen nicht, ob eine Religion (Islam) zu einer Nation (BRD) gehört oder nicht. Es ist, als ob die alttestamentarische Einheit von Volk, Nation, Territorium, Glaube und Prophet in vielen Köpfen noch nicht überwunden ist. Glauben ist nicht nur rituelle Prax­is, sondern auch Denksystem, philosophisches Welterklärungsmodell, das nach innen als Sinn- und Identitätsstifter fungiert. Nach außen wirkt Religion wie ein Zeichen, das Rückschlüsse über die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen zulässt. Nathan nimmt sich viel Zeit, zwischen diesem Innen und Außen zu vermitteln. Um ins Gespräch zu kommen, wird spekulativ argumentiert, denn die Innenwelt des Gegenübers ist unbekannt. Und genau dieses Spekulative überführen Gintersdorfer/Klaßen in ihr Diskurstheater zu Lessings aufklärerischem Werk. Angehörige der drei großen Schriftreligionen machen den Versuch, die uns trennende, von Herkunft und Religion geprägte Identität in körperliche Exerzitien aufzuweichen, bis die reale oder nur vorgestellte Differenz schmilzt.

  • „Aber in Bremen ist die Vorlage stets konkrete Stichwortgeberin beim Themenhopping. Lessings Idealismus wird nicht nur verlacht, sondern in choreographische Praxis übersetzt. Die Körpersprachen der kulturell sehr unterschiedlich geprägten Spieler wachsen in diesen Begegnungen über die eigenen Grenzen, nähern sich in einem lässigen Bewegungskanon einander an – bringen so Gegensätze miteinander ins Spiel und zum Tanzen. Da triumphiert diese Produktion ganz beiläufig, weil sie Lessings Plädoyer verstandeshell kritisiert und herzenstoll recht gibt.“ (Jens Fischer, Deutsche Bühne, November 2018)

    „So philosophiert und assoziiert sich die Gintersdorfer/Klaßen-Truppe tanzend und singend entlang der Dramenlektüre durch die Konflikte und Widersprüche der eigenen Gegenwart. Und ‚Nathan der Weise‘ gibt, wenn man ihn so Stück für Stück auspresst, auch tatsächlich eine Menge Saft her. Knut Klaßens erratische Bühneninstallation aus Kunststofflamellen und Röhrenstegen ins Publikum, Gummireifen und Baumästen sowie rätselhaften Motivschuhen aus Eis, Stoff und Lehm injizieren dabei den Interpretationshäppchen eine ordentliche Dosis Irrrationalität. Gut so. Sonst merken Schüler und LehrerInnen womöglich noch, dass sie hier mit ‚Texten und Materialen‘ eines Halbjahrs in zwei Theaterstunden beschossen worden sind.“ (Eva Behrendt, Theater heute, Oktober 2018)

    „Anregend und überfordernd. […] Die Körpersprache der kulturell sehr unterschiedlich geprägten Spieler spiegeln sich in den choreografierten ‚Nathan‘-Spielszenen nicht als permanente Differenzbehauptungen, sondern wachsen über die eigenen Grenzen hinaus und nähern sich an – bringen die vorgeführten Gegensätze also miteinander in Spiel und zum Tanzen. Dann tut Toleranz auch gar nicht mehr so weh.“ (Jens Fischer, Theater der Zeit, Oktober 2018)

    „Ensemble und Zuschauer erarbeiten sich das Stück auf durchaus anregende Weise, bunt und bewegt, aber auch nachdenklich und diskursiv. […] Vor allem wird der Toleranzgedanke, also der Kern des Stückes, immer wieder aufgegriffen, seine Grenzen werden ausgelotet, Toleranz fängt an, wo der Schmerz beginnt, um das zu illustrieren steigen die Akteure durchaus auch schon mal in Eisblockschuhe. […] Insgesamt war der Abend im besten Sinne lehrreich und wenn das nach anstrengender Theorie klingt: das war es aber eben genau nicht, sondern wirklich sehr dynamisch, manchmal auch richtig witzig. Ich fand, das war eine sehr gelungene Spielzeiteröffnung.“ (Christine Gorny, Bremen Zwei, 8. September 2018)

    "Mit Lessings dramatischem Gedicht ,Nathan der Weise‘ startet das Theater Bremen in die Saison. Mit einer Adaption, die zwar viel Originaltext einspart, dafür aber reichlich Hintergründiges spendiert. […] Zu besichtigen ist also eine Wundertüte, aus der sich jeder teilnehmende Beobachter das fischen kann, von dem er sich Lust- und Erkenntnisgewinn verspricht. Fußnotenfetischisten dürfen sich an versprengten Sekundärliteraturanregungen von Sigmund Freud ("Der Mann Moses") bis Jan Assmann ("Moses der Ägypter. Enzifferung einer Gedächtnisspur") laben, die sich mit der symbolischen Ordnung und den Gewaltverhältnissen an der monotheistischen Religionsfront befassen. Zeitgeschichtlich interessierte Zuschauer wiederum dürfen sich daran freuen, dass das letzte Räsonnement des Kollektivs mögliche Toleranzlehren nach Chemnitz betrifft. Und wer sich nach der langen Theaterpause einfach mal wieder auf unterhaltsame Weise gründlich den Kopf durchpusten lassen will, wird gleichfalls gut bedient." (Hendrik Werner, Weser Kurier, 9. September 2018)

    "Was so entsteht, ist eine abstrakte Aufführung, in der das Original immer vorhanden ist und nie ganz da. Und gerade das macht die klar getaktete Figurenrede des Urtextes, dort, wo sie denn durchbricht, zur Sensation: Es sind zumal die direkten Konfrontationen im Dialog, in denen Lessings smarte Blankverse unerreicht geschmeidig bleiben." (Benno Schirrmeister, taz, 15. September 2018)

    "Dass die Entstehungsgeschichte dessen, was wir da auf der Bühne sehen, mit sich selbst ins Gespräch kommt und transparent wird, ist Teil des Verfahrens Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen. Dass Bücherberge zu bewältigen sind, die nicht im Hintergrund in die Regiekonzeption eingehen, sondern ausgiebig zitiert werden, ebenfalls. Dass Rollen höchst porös sind, auch. […] Das mag hier und dort auch mal ein wenig redundant sein, und manches weiß der eine oder andere vielleicht bereits. Aber es ist vor allem eine kluge und zugleich kurzweilige Aufforderung zu einem Gespräch, das dringend geführt werden muss." (Rolf Stein, Kreiszeitung, 10. September 2018)